Lesung aus Klaus Mann: „Der Wendepunkt“

Im Achten Kapitel hat Mann einige Stellen aus einem offenen Brief an Stefan Zweig wiedergegeben zu dem Titel „Jugend und Radikalismus“.

 

„ ...... Fraglich bleibt, ob ich meinerseits berechtigt war, mich als politischen Experten und Repräsentanten der <guten Sache> aufzuspielen. Was tat ich selber zur Besserung und zum Schutze unserer so sehr schutz- und besserungsbedürftigen Demokratie? Wo war mein eigener Beitrag zur Rettung der gefährdeten Republik? Welcher kämpferischen Tat oder sozialen Leistung konnte ich mich rühmen?

Unbestreitbar, ich war gegen Hitler – von Anfang an, unbedingt, ohne irgendwelche Vorbehalte psychologisch-pazifistischer oder diabolisch-paradoxer Art. Selbst meinem wachsamsten Todfeind würde es nicht gelingen, in all meinem Geschreibsel eine einzige Passage zu entdecken, die der Nazi-Philosophie, dem Nazi-Geschmack in irgendeinem Sinn entspräche oder Konzessionen machte. Die ganze Richtung passte mir nicht, war mir ein Greuel und Ekel, durchaus verhasst und wider die Natur. Das ist immerhin etwas, ein Argument, welches sich denn doch für meinen moralischen Instinkt und meine politische Urteilsfähigkeit ins Feld führen lässt. Aber es ist nicht genug.

Ja vielleicht verhält es sich sogar so, dass dieser völlige Mangel an Kontakt mit der Nazi-Mentalität es mir zunächst schwer oder unmöglich machte, eben diese Mentalität wirkungsvoll zu bekämpfen. Unser Haß wird wohl nur dort aktiv und militant, wo wir eine gewisse Affinität zum Gegner spüren. Man bekämpft nicht – oder doch nicht mit vollem Einsatz -, was man durchaus verachtet. Lohnt es sich, den offenbaren Unsinn und frechen Aberwitz logisch zu widerlegen? Man begnügt sich mit einem angewiderten Achselzucken.

Diese Nazis – ich verstand sie nicht. Ihre Journale- <Stürmer>, <Angriff>, <Völkischer Beobachter> oder wie der Unflat sonst noch heißen mochte – hätten ebenso gut in chinesischer Sprache erscheinen können: Ich kapierte kein Wort. Wovon war denn die Rede in den seltsamen Liedern, die der braune Pöbel auf den Gassen hören ließ? Worum handelte es sich in ihren kuriosen Pamphleten und Manifesten? Irgend etwas musste sich doch verbergen hinter all diesem absurden Gerede über Juden, Zinsknechtschaft und Versailler Diktat – irgendein geheimer Sinn, zugänglich allein dem Eingeweihten. Dieser begriff vielleicht, was gemeint war, wenn mit wunderlicher Insistenz behauptet wurde, die Israeliten wollten Deutschland zerstören, ein Verdacht, dessen Unhaltbarkeit sich für jeden Vernünftigen von selbst verstand. Aber vielleicht wurde in die Mysterien der Nazi-Seele und des Nazi-Jargons nur eingeweiht, wer die Vernunft in sich überwunden, endgültig auf sie verzichtet hatte? War man noch nicht so weit, so konnte einem wohl beklommen zumute werden angesichts von so viel Dummheit und Lüge.

Mir war beklommen zumute, aber nicht beklommen genug – eben weil ich nicht verstehen wollte, dass die Mehrheit meiner Mitbürger das <sacrificium intellectus> längst gebracht und die störende Vernunft in sich getötet hatte. Dergleichen hält man möglichst lang für ein Ding der Unmöglichkeit. So lange nämlich, bis es sich leider doch als möglich erweisen wird. Mir wollte es nicht in den Kopf, dass die Deutschen Hitler allen Ernstes für einen großen Mann, ja für den Messias halten könnten. Der und groß? Man brauchte ihn doch nur anzusehen!

Ich hatte wiederholt die Gelegenheit, diese Physiognomie zu studieren. Einmal aus nächster Nähe, etwa eine halbe Stunde lang. Das war 1932, ungefähr ein Jahr vor der <Machtergreifung>. Die Carlton-Teestube in München war damals eines seiner Stammlokale, eine Tatsache, von der ich übrigens keinerlei Kenntnis hatte, als ich dort eines Nachmittags eintrat, um mir eine Tasse Kaffee zu genehmigen. Ich entschied mich für dieses Lokal, weil das Café Luitpold – gerade gegenüber, auf der anderen Seite der Briennerstraße – neuerdings zum Treffpunkt der SA und SS geworden war: Ein anständiger Mensch verkehrte dort nicht mehr. Der Führer, wie sich nun herausstellte, teilte meine Aversion gegen seine tapferen Mannen; auch er bevorzugte die Intimität des distinguierten <Tea-Room>.

Da saß er, umgeben von ein paar bevorzugten Spießgesellen, und ließ sich sein Erdbeertörtchen schmecken. Ich nahm am Nebentisch Platz, kaum einen Meter entfernt. Er verschmauste noch ein Erdbeertörtchen mit Schlagrahm (die Kuchen waren gut im <Carlton>); dann ein drittes – wenn es nicht schon das vierte war. Ich esse selbst recht gerne süßes Zeug; aber der Anblick seiner halb infantilen, halb raubtierhaften Gefräßigkeit verschlug mir den Appetit. Übrigens wollte ich, da der Zufall mich nun einmal herbeigeführt hatte, meine Aufmerksamkeit auf das Schleckermäulchen am Nebentisch konzentrieren, war mir kaum möglich gewesen wäre, hätte ich selbst geschleckt.

Zwei Fragen waren es vor allem, die mich beschäftigten, während dieser dreißig Minuten unheimlicher Nachbarschaft: Erstens, worin lag das Geheimnis seiner Wirkung, seiner Faszination? Und, zweitens, an wen erinnerte er mich, wem sah er ähnlich? Ohne Frage, er glich einem Mann, den ich nicht persönlich kannte, aber dessen Portrait ich oft gesehen hatte. Wer war es nur? Nicht Charlie Chaplin. Beileibe nicht! Chaplin hatte das Schnurrbärtchen, aber doch nicht die Nase, die fleischige, gemeine, ja obszöne Nase, die mich sofort als das garstige und am meisten charakteristische Detail der Hitlerschen Physiognomie beeindruckt hatte. Chaplin hatte Scharme, Anmut, Geist, Intensität – Eigenschaften, von denen bei meinem schlagrahmschmatzenden Nachbarn durchaus nichts zu bemerken war. Dieser erschien vielmehr von höchst unedler Substanz und Beschaffenheit, ein bösartiger Spießer mit hysterisch getrübtem Blick in der bleich gedunsenen Visage. Nichts, was auf Größe oder auch nur auf Begabung schließen lassen konnte!

Es  war  gewiß  kein erfreuliches  Gefühl,  in der  Nähe einer solchen Kreatur zu sitzen; und doch konnte ich mich nicht satt sehen an der widrigen Fresse. Besonders attraktiv  hatte ich ihn  zwar nie gefunden,  weder im Bilde noch auf der  illuminierten  Tribüne; aber die Hässlichkeit, der ich mich nun gegenüber fand, übertraf doch all meine Erwartungen. Die Vulgarität seiner Züge beruhigte mich, tat mir wohl. Ich sah ihn an und dachte: Du wirst nicht siegen, Schicklgruber, und wenn du dir die Seele aus dem Leibe brüllst. Du willst Deutschland beherrschen? Diktator willst du sein – mit der Nase? Daß ich nicht kichere! Du bist derartig mies, dass du einem beinahe leid tun könntest – wenn  deine  Miesigkeit  nicht eben von so besonders abstoßender Natur wäre... Laß dir nur noch ein Erdbeertörtchen kommen, Schicklgruber – es ist wohl das fünfte? -; in   ein  paar Jahren kannst du dir’s nicht mehr leisten; ein Bettler, ein Vergessener wirst du sein, in ein paar kurzen Jährlein. Du kommst nie zur Macht!

Gab es keine blutige Gloriole um sein Haupt, mich zu warnen? Keine Schrift an der Wand der Carlton-Teestube? Nichts Beunruhigendes ließ sich bemerken. Nur rosig diskretes Licht, gedämpfte Musik, gehäufelte Bäckereien und, inmitten dieses schlagrahmsüßen Idylls, ein unsympathischer, aber gewiß harmloser kleiner Mann mit komischem Schnurrbärtchen und eigensinniger Stirn, der im Kreise gleichfalls unbedeutender Kumpane seine Tasse Schokolade schlürfte. ......

Du kommst nie an die Macht, dummer Schicklgruber! Dachte ich wieder, jetzt bester Laune. Während ich die Kellnerin rief, um meine Konsumtion zu bezahlen, fiel mir plötzlich ein, an wen der Kerl mich erinnerte. Haarmann, selbstverständlich. Wieso war ich darauf nicht schon längst gekommen? Freilich doch, er sah aus wie der Knabenmörder von Hannover, dessen Prozess unlängst Sensation gemacht hatte. Ob er, der österreichische Operettenhabtué am Nebetisch, ebenso tüchtig war wie sein norddeutscher Doppelgänger? Dieser homosexuelle Blaubart hatte es fertig gebracht, dreißig, vierzig junge Buben in seine gastliche Stube zu locken, wo er ihnen im Liebesakt die Kehle durchbiß und aus den Leichen schmackhafte Wurstware machte. Eine stupende Leistung, besonders wenn man bedenkt, dass der emsige Kinderfreund in einem engen Mietshaus zwischen wachsamen Nachbarn logierte! Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg: Mit zäher Zielstrebigkeit setzt man noch das scheinbar Unmögliche durch.... Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Tatmenschen frappierte mich. Schnurrbart und Locke, der verhangene Blick, der zugleich wehleidig und rohe Mund, die sture Stirn, ja sogar die anstößige Nase. Es war alles dasselbe!

So was kommt nie zur Macht! Ich war meiner Sache ganz sicher, da ich mich nun dem Ausgang zubewegte. Du bist eine Niete, Schicklgruber. Bei dir langt es höchstens zum Lustmord!

Kein blutiger Schein? Keine Schrift? Kein warnendes Zeichen? Eine Nation, die sich sonst viel auf ihre Dichter und Denker zugute getan hatte, akzeptierte eine Wanze als <Mann des Schicksals>. Wie konnte es soweit kommen?   Diese Deutschen, ich verstehe sie nicht!“